FAZ.NET, 28.10.2020
Neue Corona-Maßnahmen
Der Sport ist keine Nebensache
Von Anno Hecker
Auch der Sport hat seinen Teil getragen in dieser Pandemie. Er muss das tun, wenn er seiner proklamierten Rolle als Stütze der Gesellschaft gerecht werden will. Man darf also Ansprüche an ihn stellen, an sein Selbstverständnis: die Gemeinschaft zu suchen, mit ihr zu wachsen, sich gegenseitig zu helfen, Druck auszuhalten, Niederlagen zu verarbeiten und Frust zu kompensieren. Im Frühjahr ist der organisierte Sport durch die Solidarität seiner Mitglieder aufgefallen. Die Beiträge flossen, auch wenn sich monatelang nichts bewegte, die Kreativität wuchs. Das wird auch im zweiten, am Mittwoch von der Bundesregierung und den Ländern beschlossenen Lockdown für alle Amateurvereine so sein. Dort wo die Emotion das Leben bereichert, ist auch die Vernunft zu Hause.

Das heißt aber nicht, dass sich der organisierte Sport still ins Eck zurückziehen sollte. Er muss den Mund aufmachen und allen Politikern oder Prominenten entgegentreten, die mit großer Geste immer noch von der "schönsten Nebensache" der Welt faseln und mit diesem längst überholten Satz den Sport in die Ecke stellen - als überflüssig. Das mag für das Treiben mancher Hochleistungsathleten gelten. Aber nicht für die vielen Bürger in 90.000 Vereinen. Allein 27 Millionen Mitgliedschaften zählt der Deutsche Olympische Sportbund. Dazu kommen weitgehend Ungezählte, die sich in privaten Zirkeln treffen, allein joggen oder Fitnesscenter aufsuchen.

Positiver Lebensfaktor

Die positive Wirkung ihrer Bewegungslust hat eine weit größere Wirkung als die persönliche Befriedigung, Schweiß vergossen, einen symbolischen Berg erklommen zu haben. Die enorme Entlastung des Gesundheitssystems ist unbestritten, wenn die Menschen mäßig, aber regelmäßig ihren Körper pflegen und dabei auch ihr Immunsystem stärken. Nicht nur Herzkranke wissen, dass sie über Sport wieder auf die Beine kommen können. Den Einfluss von Beweglichkeit auf das Denkvermögen von Kindern haben Wissenschaftler längst bewiesen.

Dass Sport dem Gesellschaftstier Mensch, der Seele und, wenn es so viele sind, der Nation guttut, muss nicht diskutiert werden. Er ist ein positiver Lebensfaktor. Und deshalb ist es in diesen Zeiten so wichtig, nach dem grundsätzlichen Konsens genauer hinzuschauen. Was passiert denn, wenn der Verein runtergefahren wird, der Schulsport als Erstes wegfällt, das Zirkeltraining der Senioren nicht mehr stattfinden darf, die Schwimmbäder geschlossen sind?

Den ersten Stillstand haben die Vereine überwiegend gut überstanden. Die Finanzhilfen der Länder wurden nicht ausgeschöpft. Der Sport hat Spielraum. Aber die zweite große Welle wird das System durcheinanderwirbeln. Die Folgen werden von einem Rückgang der Anmeldungen bei den Kleinen über den Rückzug der noch zahlungswilligen Mitglieder bis hin zu den sogenannten Kollateralschäden reichen. Weil Sport das Leben verlängert, Gesunder wie Kranker. Dann sollen sie doch in den Wald gehen?

Das ist schon längst so. Corona beschleunigt den Trend der Individualisierung, beflügelt gebeutelte Ehrenamtliche, sich zurückzuziehen, und bedroht die lebenserhaltende Struktur des Sports. Er muss werben, Angebote machen können, falls er im Spiel bleiben will. Das gilt vielleicht nicht für jeden Dorfverein. Aber sicher für die vielen großen Klubs in den Städten. Sie werden nicht als Profivereine in einem Ligaverband wahrgenommen, sind aber von ihren Einnahmen abhängig: Alle, die Schwimmbäder auf eigene Kosten betreiben, Gesundheitssport rund um die Uhr und für alle Generationen anbieten, im besten Sinne wie Sozialstationen für ganze Stadtviertel wirken. Deshalb ist es bei aller gebotener Vorsicht dringend nötig, Lösungen zu finden, dem Stillstand so schnell wie möglich entgegenzuwirken. Sonst wird der Schaden höher sein als der Gewinn.
 
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